Der mit dem Herzen sieht

Im Jahr 2006 bekommt Frank Giering das Angebot zu einer durchgehenden Rolle in der neuen ZDF Serie Der Kriminalist. Die Regisseurin Sherry Hormann hat seine Besetzung gegen alle Widerstände durchgesetzt, da sie dem kühlen Christian Berkel unbedingt den sensiblen Frank Giering zur Seite stellen wollte. Kein anderer Schauspieler in Deutschland hätte den Mut zu dieser Emotionalität, dieser Verletzlichkeit. Er sei wie aus einem Saint-Exupéry-Roman: Ein Mann, der mit dem Herzen sieht. [1] Um die Versicherung zu beruhigen, denen das Ausfallrisiko mit einem alkoholkranken Darsteller zu groß ist, verpflichtet Hormann Frank Gierings Stiefvater dafür zu sorgen, dass sein Sohn morgens pünktlich am Set erscheint.

Auch wenn die Presse allgemein der Meinung ist, Frank Giering würde sich durch diese Rolle unter Wert verkaufen, [2] bestreitet er diese Auffassung in Interviews vehement und wird nicht müde zu beteuern, wie dankbar er dem ZDF für diese Chance sei. Auch weil er bislang dachte, dass er das gar nicht könne. »Ich dachte zuerst, dass ich nur den Bösen oder Zurückgezogenen spielen kann. Das ist ja auch immer ein Schutzreflex. Aber als Kommissar kannst du das nicht, da musst du für den anderen da sein, du musst mit ihm agieren und nicht gegen ihn. Insofern ist es ein sehr gutes Training für mich.« [3]

Wichtig ist ihm nur, »seinen« Henry Weber so menschlich wie möglich darstellen zu dürfen, ihm all die Brüche und Schwächen mit auf dem Weg zu geben, die eine Figur erst zu einem Menschen macht, die ihr Tiefe und eine Seele verleiht. Nachdem er so lange auf der anderen Seite des Vernehmungstisches gesessen hat, möchte er in seiner Rolle keinesfalls dem Klischee eines dynamischen und erfolgreichen Polizeibeamten entsprechen. [4] »Ich habe gleich gesagt, dass ich niemals ein Kommissar sein kann, der ins Fitnessstudio geht oder ein gewöhnliches Leben führt. Ich wollte meine Macken oder irgendetwas Persönliches in die Rolle einbringen, und das durfte ich von Anfang an.« [5] Dass ihm sein Vorhaben gelingt, beweisen die positiven Reaktionen seitens der Presse. Tatsächlich hat es gemäß der Stuttgarter Zeitung manchmal sogar eher den Eindruck, als ob dieser Henry Weber sich im Polizeirevier verlaufen hätte. [6] Einige Journalisten gehen sogar so weit, zu behaupten, dass dieser Henry Weber doch die bei weitem spannendste und vielschichtigste Figur im Kriminalisten-Team sei. So schreibt etwa die Berliner Morgenpost zum Start der zweiten Staffel: »Eine echt undankbare Rolle für Christian Berkel: Als kühler, verschlossener Kommissar Bruno Schumann hinterlässt er beim Zuschauer kaum einen bleibenden Eindruck. Umso bedauerlicher, dass (...) die viel interessantere Figur, Schumanns sensibler Assistent Henry Weber (...), erst in der zweiten Hälfte stärker zum Zug kam und Farbe ins Spiel brachte – etwa als er bei einer Undercoverrecherche verlegen in einem Stripschuppen saß.« [7]

Es sei dennoch nicht einfach gewesen, in der Rolle noch etwas Eigenes zu finden. Auch weil ihm bewusst ist, dass beim Zuschauer eher das Düstere haften bleiben wird. [8] Und er gibt zu, dass die Überbringung einer Todesnachricht an Angehörige doch leichter für ihn zu spielen sei als eine Verhaftung. »Bei emotionalen Szenen klingt sehr viel von mir selbst mit. Bei Verhaftungen braucht man Autorität, und die geht mir im Privaten eher ab.« [9]

Trotz einiger neuer, ungewohnter technischer Aspekte, wie zum Beispiel die richtige Handhabung von Waffen, unterscheidet sich seine Vorbereitung auf die Rolle des »Henry Weber« nicht wesentlich von seinem üblichen Vorgehen, einen emotionalen Zugang zu einer Figur zu finden. »Wir haben uns mit Kommissaren aus dem realen Leben getroffen und uns mit ihnen über ihren Alltag ausgetauscht. Zudem kamen dann praktische Übungen in Form von Schießtraining auf uns zu, damit wir auch wissen, wie man eine Waffe richtig hält. Ansonsten habe ich mich für diese Rolle vorbereitet wie auf jede andere Rolle. Ich versuche mich in die Figur auf Grundlage des Drehbuchs emotional hineinzudenken und übernehme somit automatisch die Biografie. Man sucht nach Ursachen und Gründen, wieso diese Figur so ist wie sie ist, warum sie in bestimmten Situationen so handeln muss.« [10]

Auch wenn Frank Giering erst beim Casting erfahren haben soll, dass es sich bei dem neuen Projekt mitnichten um einen Fernsehfilm sondern um ein auf Dauer angelegtes Serien­format handelt, sieht er in der Festlegung auf eine solch langfristige Produktion für sich solange kein Problem, derweil die zukünftigen Rollenangebote vielseitig bleiben. [11] Vielmehr sieht er in der Möglichkeit, mit einem Team über einen längeren Zeitraum agieren zu dürfen auch eine große Chance. »Gerade weil man in einer Serie die anderen besser kennenlernen kann, entstehen beim Drehen zwischen den Figuren wunderbare Sachen, oft nur Kleinig­keiten, die vieles lebendiger machen, was sich vielleicht nur in Blicken oder Gesten äußert. So etwas entsteht erst, das kann man gar nicht ins Drehbuch schreiben.« [12]

Diese Sichtweise wird auch von Frank Gierings Serienpartner Christian Berkel geteilt: »Zwischen Frank und mir hat sich sofort so eine Chemie ergeben. Das hat einfach gestimmt. Wir sind als Typen – darin liegt glaube ich auch der Reiz – auf der einen Seite sehr gegen­sätzlich, sicherlich auch vom Temperament her sehr gegensätzlich – so wie diese Figuren auch gegensätzlich sein sollen. Und trotzdem… ich mag den Frank einfach in jeder Hinsicht sehr, sehr gerne. Er ist ein wunderbarer Schauspieler. Er ist ein ganz feiner, hochsensibler, intelligenter Mensch. Und er ist ein sehr emotionaler Schauspieler, jemand, der wirklich aus der Situation heraus seine Figur entwickelt und nicht mit irgendeinem Plan ans Set kommt. Man kann wunderbar mit ihm improvisieren. Und das ist etwas, was wir zwischen uns so langsam immer mehr entwickeln – dass wir manchmal eine Szene nehmen, wo wir sagen: ›Ja, da fehlt uns noch die und die Ecke.‹ Und dann machen wir dem Regisseur einen Vorschlag. Das kann man nicht mit vielen Leuten machen. Das ist wie Musik machen. Oder wie tanzen. Dazu braucht man den richtigen Partner.« [13]

Zweifellos hat Frank Giering seine Rolle in späteren Jahren auch durchaus kritisch gesehen. »Aber natürlich kommt man an einen Punkt, wo man über die Entwicklung einer Figur nachdenkt. Ich beneide manchmal den Täter am anderen Ende des Tisches. Der spielt mit uns, lügt, trickst, weicht aus. Der hat einfach viel mehr Möglichkeiten.« [14]

Doch allen aufkommenden Zweifeln zum Trotz bleibt Frank Giering dieser Rolle, die ihn eigentlich unterfordert haben muss, auch über die Jahre weiter treu. Obwohl er mehrfach darum gebeten haben soll, ihn aus der Serie herauszuschreiben, lässt er sich doch immer wieder zum Weitermachen überreden. [15] Die Beständigkeit des Teams wird für ihn – neben der finanziellen Sicherheit und der Möglichkeit, den Großteil des Jahres in Berlin drehen zu können –vermutlich der Hauptanreiz für diese Entscheidung gewesen sein. Er, der immer darunter gelitten hat, dass der Kontakt zu den Kollegen meist oberflächlich blieb und selten die Dreharbeiten überdauerte, findet im Team des Kriminalisten eine neue Geborgenheit. Der Kriminalist wird für ihn Familie und Fixpunkt zugleich. [16]

Die vertraute Umgebung hilft ihm nach Einschätzung von Christian Berkel auch dabei, seine Dämonen – zumindest während der Dreharbeiten – ein Stück weit in Schach zu halten und zu leben. Doch sobald die Kamera nicht mehr läuft, kann er seinen Ängsten nur wenig entgegensetzen. Auf die Frage eines Journalisten, ob Frank Giering seine Rollen zu nah an sich herangelassen habe, sie zu sehr mit in sein Privatleben genommen habe, antwortet Christian Berkel: »Ich weiß (...) gar nicht, ob er die Rollen so ins Privatleben mitgenommen hat. Ich glaube eher, dass die Rollen oder die Arbeit vor der Kamera für ihn so etwas wie ein Familienersatz waren und ihm eigentlich geholfen haben, zu leben. Aber sowie die Kamera nicht mehr lief, war er extrem einsam und hatte auch große Mühe, Leute an sich ranzulassen. Das war einfach für ihn – aus welchen Gründen auch immer – sehr, sehr schwer.« [17]


[1]     Rodek, Hanns-Georg; Sudholt, Eva: Der sehnsüchtige Gigant, in: Welt am Sonntag vom 27.06.2010.

[2]     Z.B. Wahl, Thorsten: Die Traurigkeit bleibt, in: Berliner Zeitung vom 25.02.2011 und Spaich, Herbert: Zum Tod von Frank Giering, in: http://www.swr.de/blogfilmspaicher/2010/06/27/zum-tod-von-frank-giering, abgerufen am 28.08.2012.

[3]     Wulf, Steffen: Interview mit Frank Giering – Mit 24 Jahren habe ich mich das erste Mal richtig verliebt..., in: http://cinedat.org/interviews/interview_mit_frank_giering, abgerufen am 28.08.2012.

[4]     Wehrstedt, Norbert: Wenn ich Leid spiele, leide ich mit, in:  Leipziger Volkszeitung vom 12.10.2007.

[5]     Wulf, Steffen: Interview mit Frank Giering – Mit 24 Jahren habe ich mich das erste Mal richtig verliebt..., in: http://cinedat.org/interviews/interview_mit_frank_giering, abgerufen am 28.08.2012.

[6]     Hildebrandt, Antje: Der Nesthocker, in: Stuttgarter Zeitung vom 09.12.2006.

[7]     Kurzkritik: Undankbare Rolle, in: Berliner Morgenpost vom 10.06.2008.

[8]     Hildebrandt, Antje: Der Nesthocker, in: Stuttgarter Zeitung vom 09.12.2006 und Hildebrandt, Antje: Ich bewundere Homer Simpson, in: Frankfurter Rundschau vom 07.12.2006.

[9]     Freitagsermittlung in Moll, in: Neue Osnabrücker Zeitung vom 08.12.2006.

[10]    Schumacher, Silvia: Austausch mit Kommissaren aus dem realen Leben – Interview mit Frank Giering und Anna Schudt, in: Pressemappe Der Kriminalist vom 19.10.2006, S. 19-20.

[11]    Wulf, Steffen: Interview mit Frank Giering – Mit 24 Jahren habe ich mich das erste Mal richtig verliebt..., in: http://cinedat.org/interviews/interview_mit_frank_giering, abgerufen am 28.08.2012 und Wehrstedt, Norbert: Wenn ich Leid spiele, leide ich mit, in: Leipziger Volkszeitung vom 12.10.2007.

[12]    Wulf, Steffen: Interview mit Frank Giering – Mit 24 Jahren habe ich mich das erste Mal richtig verliebt..., in: http://cinedat.org/interviews/interview_mit_frank_giering, abgerufen am 28.08.2012.

[13]    Interview Christian Berkel, in: Den König spielen die anderen, ZDF Mediathek, abgerufen am 31.12.2010.

[14]    Schneider, Sabine: Ich gucke lieber, in: Leipziger Volkszeitung vom 31.01.2009.

[15]    Hunfeld, Frauke: Zu ängstlich fürs Leben, in: Der Stern, Heft 29/2010, S. 64.

[16]    Vogt, Rainer: Jeder Mensch hat eine Farbe, die nicht wiederholbar ist – Christian Berkel über die Reihe Der Kriminalist und Frank Giering, in: Berliner Morgenpost vom 14.10.2010.

[17]    Interview Christian Berkel, in: Volle Kanne, Erstausstrahlung 06.06.2011, ZDF.