Grenzgänger zwischen den Welten

Doch dieser Optimismus hält nicht lange an. In der vierten Staffel des Kriminalisten sieht man einen deutlich abgemagerten Frank Giering. 20 Kilo, gibt er an, habe er abgenommen. Nicht für eine Rolle, sondern für sich selbst. »Ich war schon als Kind immer etwas pummelig. In der letzten Zeit aber, wenn ich einen Film synchronisiert habe, in dem ich mitspielte, konnte ich mich selbst nicht mehr sehen.« [1]

Also habe er beschlossen, abzunehmen. »Und mit einer ungewollten Unterstützung habe ich es dann auch geschafft.« [2] Die ungewollte Unterstützung resultiert aus den drei Phasen einer Begegnung mit einer Frau. »Ich war verliebt, dann war es irgendwann Liebe und irgendwann war es Liebeskummer. Und das lag alles zeitlich ziemlich dicht beieinander… (...) Als ich verliebt war, konnte und wollte ich nicht essen. Da wollte ich einfach ein bisschen fitter sein. Und als es dann Liebe war, habe ich versucht, so zu essen, wie die Frau gegessen hat – also gesünder und nicht so viel. Und als es dann Liebeskummer war, konnte ich nicht essen. Irgendwann habe ich dann aber gemerkt: der gute Nebeneffekt ist, dass man abnimmt. Und dann habe einfach versucht, meine Essgewohnheiten zu ändern und weniger zu essen, nicht mehr so oft zu essen, andere Sachen zu essen. Und das hat dann ganz gut geklappt.« [3]

Für Frank Giering, der Zeit seines Lebens unter seiner eher kräftigen Statur gelitten hat, sich viel zu oft allein auf seinen Körperumfang, sein Gewicht reduziert und klein geredet hat, muss sich jedes einzelne schwindende Kilo wie eine Erlösung angefühlt haben. Doch je mehr er an Gewicht verliert, desto mehr entgleitet ihm auch die Kontrolle, desto größer wird die Angst, das Erreichte zu verlieren, wieder an Gewicht zuzulegen. Mit einer fast manischen Besessenheit, in der erste Anzeichen einer krankhaften Magersucht erkennbar sind, betreibt er Raubbau an seinem Körper. Er schmilzt vor den Augen seiner Umgebung förmlich dahin, wird nicht leichter, sondern schwächer. Seine eigene Wahrnehmung, sein Selbstbild ist zunehmend verzerrt. Das schiere Entsetzen in seinem Umfeld sieht er als Bestätigung, als Kompliment. Stimmen, die ihm zu einer Umkehr raten, ihn dazu bewegen wollen, wieder an Gewicht zuzulegen, schenkt er kein Gehör. Zu gegenwärtig sind ihm noch die Hänseleien der Mitschüler, die ihn in seiner Kindheit als »dicken Willy« verspottet haben, zu präsent auch die Bilder in seinem Kopf, die ihn mit deutlichem Übergewicht zeigen. [4] So möchte er nie wieder aussehen, schwört er sich, koste es, was es wolle. [5] »Ich habe mir immer gewünscht, dass jemand mal zu mir sagt, ich sei zu dünn, weil ich mein ganzes Leben lang pummelig war. Jetzt freue ich mich, wenn die Leute meinen, dass ich ruhig wieder etwas zulegen könne. Vielleicht ist das krank, aber das reimt sich ja auch auf Frank.« [6]

Auch beim Kriminalisten beobachtet man die radikale, fast schonungslose Abmagerung von Frank Giering mit zunehmender Besorgnis. Bereits 2009 wurde es notwendig, den Einspieler des Vorspanns zu aktualisieren, zu offensichtlich, zu dramatisch war die Wandlung des ehemals pummelig-kräftig wirkenden Darstellers zu der mittlerweile fast hager erscheinenden Statur. Doch ein halbes Jahr später zeigen die Dreharbeiten zur neuen, fünften Staffel einen inzwischen nahezu abgemagerten Frank Giering. Fast nur noch aus Haut und Knochen bestehend, wirkt er spürbar geschwächt, fast kränklich. Hinter vorgehaltener Hand werden Mutmaßungen über mögliche Gesundheitsprobleme angestellt, Spekulationen zu seinen Essgewohnheiten machen die Runde. Doch Rückfragen seitens der Produktionsleitung oder der Kollegen weicht Frank Giering aus, betont immer nur wieder, wie wohl er sich fühle. [7]

Frank Giering am Set der ZDF Serie »Der Kriminalist« (Juni 2009) / ©picture alliance / Sascha Radke
Frank Giering am Set der ZDF Serie »Der Kriminalist« (Juni 2009) / ©picture alliance / Sascha Radke

Seine Umgebung beginnt sich ernsthafte Sorgen um ihn zu machen. Seine Kraftreserven scheinen aufgebraucht. [8] Sein Körper beginnt, ihn im Stich zu lassen. Thomas Jahn schildert später eine Szene, in der Frank Giering, durchgefroren bis auf die Knochen, nicht mehr in der Lage zu sein scheint, seine Lebensfunktionen zu aktivieren, dem haltlosen Zittern seines Körpers etwas entgegenzusetzen. »Wir haben im Januar gedreht, wir waren alle dickstens eingepackt, an einem Tag waren minus 17 Grad, und Frank stand da in seinem dünnen Jäckchen und seiner dünnen Hose, die flatterte schon, weil da nichts mehr drin war. Und wir sagten: ›Mensch, Frank, zieh dir was an‹, und er sagte, ›ach lass mal, es geht schon‹. Als wir dann drinnen waren, hörte das Zittern aber nicht auf, auch Teile seines Gesichts zitterten. Und wir wussten nicht, wie wir das abstellen sollten und woher das kam, ob das schon Teil der Angst war.« [9] Frank Giering wirkt zunehmend stiller und gedankenverloren. Den letzten Urlaub mit seiner Mutter in Heiligendamm im Frühjahr 2010 verbringt er zumeist schweigend, versunken in der Betrachtung des Meeres. Er scheint zu spüren, dass seine Kräfte schwinden. [10]

Trotz zahlreicher Hilfsangebote ist Frank Giering offenbar nicht mehr in der Lage, Unter­stützung von außen anzunehmen. Er hat große Mühe, Menschen an sich heranzulassen. [11] Auch eine erneute Therapie schließt er für sich aus. Er bezweifelt die Erfolgsaussichten. [12]

In einem Nachruf der Zeitung Neues Deutschland ist zu lesen: »Dieser Mensch war randvoll mit einer nie erfolgreich verborgenen Traurigkeit. Einer Melancholie, von der man sich vorstellen kann, dass sie an der Grenze zur lähmenden Depression nicht immer haltmachte. Wer ihn einmal im Kino gesehen hatte, erkannte ihn immer wieder. Irgendwie ist da einer besonders ungern erwachsen geworden, schien sich immer fremder in der eigenen Haut zu fühlen, je weiter er sich von der eigenen Kindheit entfernte. (...) Ein Minimalist, dessen Schreie immer stumm blieben, dessen Stimme beständig sanft klang.« [13]

Aelrun Goette beschreibt ihn einmal als einen Grenzgänger, einen Seiltänzer zwischen den Welten. »Zum Leben erwacht vor der Kamera, die ihm seine Existenzberechtigung zu geben schien, die er selbst immer so sehr anzweifelte.« [14] Vor der Kamera fühlte er sich frei. »Ich erinnere mich an eine gemeinsame Fahrt nach einem Drehtag. Es war dunkel, es war warm, wir saßen erschöpft auf der Rückbank des Autos und fragten uns, wie man das aushalten kann: das Leben. Da beschrieb er, was mit ihm passiert, wenn sich die Kamera auf ihn richtet: wie die Intensität steigt, je näher sie kommt. Bis ran an die Angst und darüber hinaus. Und dahinter fühlt er sich frei. Aber irgendwann geht die Kamera immer aus und das ist dann wie sterben. Da habe ich verstanden, dass es zusammengehört: seine Selbst­zerstörung und die Kunst, die er in sich trägt. Das eine nicht ohne das andere. Und dass man deshalb immer ein bisschen die Hand über ihn halten muss, weil er sonst verbrennt. Ich habe es versucht. Aber es hat nicht gereicht. Ich konnte seiner Verzweiflung zu wenig entgegensetzen.« [15]

Diese Verzweiflung wird nach Ansicht von Christian Berkel auch der Grund gewesen sein, warum sich Frank Giering letztendlich für den Beruf des Schauspielers entschieden hat. »Das ist ja der Spagat in dem Beruf. Also, ich meine, wenn jemand keine Untiefen hat, und alles einfach super und toll und in Ordnung ist (...) kann er es nicht spielen und würde wahrscheinlich auch gar keinen Grund darin sehen, sich vor einer Kamera oder auf eine Bühne oder sonst was zu stellen. Das hat ja wahrscheinlich immer auch etwas damit zu tun, etwas zu kompensieren und sozusagen zu versuchen, eine Schwäche oder einen Verlust in etwas Positives umzukehren, in dem man kreativ damit umgeht. Das ist ja auch das Tolle daran, dass man dazu die Möglichkeit hat. Und für manche ist das dann eben nur noch partiell möglich. Und das ist natürlich traurig.« [16]

Auch Sebastian Schipper ist davon überzeugt, dass Frank Giering letztendlich an seiner großen Lebensangst gestorben ist. In einem Filmgespräch beantwortet er die Frage eines Zuschauers nach den Gründen für den viel zu frühen Tod von Frank Giering damit, dass »Fränkis« Leben viele dunkle Schatten hatte und er ein sehr melancholischer, sensibler Mensch gewesen sei. Und wie bei vielen hochbegabten Menschen und Künstlern gab es auch eine selbstzerstörerische Kraft in ihm. Für ihn sei das Leben unfassbar schwer und belastend gewesen. Es gab natürlich auch eine helle Seite: sein unglaublich intensives, fast zärtliches Spiel, sein wunderbarer Humor. Doch all das konnte seine Einsamkeit und seine Verzweiflung dem Leben gegenüber letztendlich nicht kompensieren. Woran er medizinisch gestorben sei, könne er nicht sagen. Weil er es auch gar nicht wüsste. Letztendlich sei dies aber auch nicht wichtig. Letztendlich sei es egal. [17]

Er möchte jung sterben, soll er einmal gesagt haben. Wie James Dean. »Als Mythos vergisst man mich nicht.« [18]

Die letzten Tage hat er in Magdeburg verbracht, hat eine kurze Drehpause dazu genutzt, seine Eltern zu besuchen, sich von seiner Mutter verwöhnen zu lassen. Alles war wie immer, die kleine Familie machte Ausflüge, ging spazieren, sah fern, verbrachte Zeit zusammen. Bei seiner Abreise begleitet ihn seine Mutter nach Berlin, sie verbringen den Tag miteinander, gehen shoppen, bummeln, in den Zoo. Abends bringt er sie zum Zug, wirft ihr zum Abschied Luftküsse hinterher, bevor er auf der Treppe nach unten verschwindet. [19]

Als er sich zwei Tage später nicht wie üblich meldet, werden seine Eltern unruhig, beginnen sich Sorgen zu machen. Der Stiefvater fährt kurzentschlossen nach Berlin, wo er seinen Sohn dösend im Bett vorfindet. Er klagt über Schmerzen, über allgemeines Unwohlsein. Als sein Vater bei ihm ist, schläft er ein. [20]

Frank Giering starb am 23.06.2010 in seiner Wohnung in Charlottenburg. Die sofort herbeigerufenen Notärzte konnten ihn nicht wiederbeleben. Als offizielle Todesursache wurde durch seine Familie eine Gallenkolik mit anschließendem Organversagen veröffentlicht, Gerüchte zu einem Freitod oder einer Alkoholvergiftung wurden stets dementiert. [21]

Am Ende konnte er seinen Dämonen wohl nicht mehr genug entgegensetzen, hat die Einsamkeit ihn verschlungen. Vom ewigen Kampf müde geworden, hat er endgültig den Halt verloren. Er ist gestolpert. Und gefallen. Diesmal für immer.

Christian Berkel sagt später: »Obwohl wir alle geahnt hatten, dass es psychisch und physisch nicht gut um Frank stand, traf uns die Nachricht wie ein Schlag. Er hatte im Jahr zuvor schon einen Herzstillstand erlitten und war ins Leben zurückgeholt worden. Ich erinnere mich sehr, sehr gerne an ihn – als Kollege und als Mensch. Ich war ihm ziemlich nahegekommen, obwohl er ›in seiner Welt lebte‹, kaum jemanden an sich ranließ und private Verabredungen stets kurz zuvor absagte.« [22]

Auch wenn das Team des Kriminalisten zunächst völlig geschockt über die unerwartete Todesnachricht ist, wird nach einer ersten Schockstarre relativ schnell entschieden, die Dreharbeiten fortzusetzen, die Serie fortzuführen. The show must go on. »Frank wurde am ersten Drehtag zur damaligen neuen Staffel tot in seiner Wohnung gefunden. Unfähig zu arbeiten, haben wir zwei Tage pausiert. Es wurde sogar ans Aufhören gedacht, aber letztendlich ging es weiter. (...),« [23] berichtet Christian Berkel in einem Interview.

Sofort setzt eine fieberhafte Suche nach einem Nachfolger ein. Drehbücher werden umgeschrieben. Trotzdem will man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Für die Verantwortlichen ist es ausgeschlossen, Dialoge einfach nur neu zu verteilen, die Figur Henry Weber stillschweigend dienstlich zu versetzen. Zu viel hatte man dem Schauspieler Frank Giering zu verdanken. Zu groß sind auch die Zuneigung und der Respekt, die man dem Menschen Frank Giering entgegenbringt. »Frank war so sehr Teil der Serie, dass wir ihm kein fiktionales Ende anhängen konnten« [24], erklärt die Produzentin Claudia Schneider. Und so entscheidet man sich letztendlich dazu, ebenso die Figur Henry Weber sterben zu lassen, die Trauer um den Menschen Frank Giering auch in der Fiktion zuzulassen. »Nicht der Kopf, sondern die Gefühle gaben den Ausschlag für diese Art Abschied« [25], begründet Claudia Schneider diesen Schritt. Zudem wird darauf verzichtet, Frank Giering ersetzen zu wollen, wohlwissend, dass er nicht zu ersetzen ist. Christian Berkel befürwortet diese Entscheidung. »Frank zu verlieren, als Mensch und als Kollegen, ist ein riesiger Verlust. Er ist auch nicht zu ersetzen. Jeder Mensch ist eine eigenständige Persönlichkeit, insofern eine Farbe, die nicht wiederholbar ist. Aber bei jemandem wie Frank trifft das doppelt zu, weil er ein ganz besonderer Mensch war. Es war eine kluge Entscheidung der Produktion, jetzt nicht jemanden finden zu wollen, der so ähnlich ist wie Frank Giering, sondern nach einem ganz anderen Typus zu suchen.« [26]

In der ersten Folge nach der Ära Frank Giering, die mit der Beerdigung von Henry Weber beginnt, ist seine Abwesenheit, sein Fehlen durchweg spürbar, ist die unterschwellige Trauer fast greifbar. Durch den Kunstgriff, die Toten, die Abwesenden durch die Augen des von Christian Berkel gespielten Kommissars zurück auf ihren Platz zu projizieren, ihnen Raum zu geben, wird Henry Weber für den Zuschauer ein letztes Mal lebendig. Eine würdige Umsetzung, findet die Berliner Zeitung: »Und wenn vor den Augen von Christian Berkels Kommissar immer wieder Bilder seines verstorbenen Kollegen Henry auftauchen, so ist dies kein Erinnerungskitsch, sondern gehört zu seinem Wesen – Bruno Schumann projiziert in seiner Arbeit seit jeher die Abwesenden auf ihre Plätze zurück.« [27]

Mit leisen Reminiszenzen – »sein Herz hat einfach aufgehört zu schlagen« [28] – erfährt Frank Giering eine letzte Würdigung, bekommen das Team und der Zuschauer Gelegenheit, Abschied zu nehmen, bevor man anschließend wieder zum Tagesgeschäft übergehen wird.

Christian Berkel schildert später eine fast kollektive Trauer am Set, wo die beiden letzten Folgen der aktuellen Staffel notgedrungen ohne Frank Giering abgedreht werden müssen. »Das war sehr, sehr schmerzhaft. Das war für mich besonders schmerzhaft, weil wir so viel Zeit miteinander verbracht haben. Und es war so eine glückliche Zusammenarbeit, so eine besondere Zusammenarbeit. Der Frank war – bei allem Schmerz, den er sicherlich auch in sich getragen hat und allen Schwierigkeiten – eben auch jemand, der einen enormen Humor hatte; der auf der anderen Seite auch unglaublich leicht sein konnte. Es war ein tolles Zusammenarbeiten. Ich glaube, das hat das ganze Team so empfunden. Und da das wirklich von einem Tag auf den anderen passierte, am ersten Drehtag dieses Blockes – am nächsten Tag haben wir natürlich nicht gedreht, aber die ganzen nächsten Wochen waren wirklich… ich habe so etwas noch nicht erlebt: das war eine kollektive Trauer. Jeder hat auf seine Art und Weise getrauert. Bei manchen passierte das ganz offen; bei anderen war es sehr zurückgenommen. Und es war trotzdem so ein gemeinsames Gefühl, wo man eigentlich jeden Morgen, wenn man zum Beispiel zum Catering kam und der Frank nicht um die Ecke kam… dann war das sehr, sehr, sehr schmerzhaft.« [29]

Ähnlich schmerzhaft werden sich die nächsten Wochen für Thomas Jahn angefühlt haben. Mit der Nachbearbeitung der bereits im Januar abgedrehten Folgen des Kriminalisten beschäftigt, hat er Frank Giering täglich vor Augen, sieht immer deutlicher die Diskrepanz zwischen dem Schauspieler Frank Giering und dem Menschen dahinter. »Es ist merkwürdig und wahnsinnig traurig und mir wird noch mal ganz deutlich, dass der Frank, den ich persönlich kannte, ein ganz anderer Mensch war als der, den er gespielt hat. Der Mensch, den er gespielt hat, hat Selbstvertrauen, ist witzig und clever und wortgewandt, all das, was Frank im Privatleben nie war. Am Set stand er in der Ecke wie ein neunjähriger Junge, total zerbrechlich, völlig schüchtern, so nach dem Motto, ich habe hier nichts zu suchen, ich bin hier nur zu Besuch und das alles ist mir total suspekt. Und dann stellte man die Kamera hin und machte eine Probe, und in dem Moment war er der Frank, den wir vom Film kennen, das ist Wahnsinn. Diese Traurigkeit in seinem Gesicht ging nicht weg, aber der Rest. Und ich sage mir jetzt manchmal, ›Mensch Frank, wenn du das gewesen wärst, was du vor der Kamera warst, wärst du heute vielleicht noch da.‹« [30]

Bei vielen Menschen in Frank Gierings Umfeld mischen sich in die erste Trauer auch leise Schuldgefühle. Viele quälen sich mit der offenen Frage, ob man seinen Tod hätte verhindern können, ob man mehr hätte tun können. [31] Ähnlich ergeht es Thomas Jahn. »Ich habe Frank geliebt. Ich habe immer zu ihm gesagt: ›Frank, spiel, wie du willst, denn das ist auf jeden Fall besser als alles, was ich dir sagen kann.‹ Ich kannte die Geschichten, dass er nicht kommt, dass er Drehtage ausfallen lässt, aber bei mir war das nie so. Er hat mal gesagt: ›Ich bin so froh, dass du da bist, Thomas.‹ Aber jetzt mache ich mir Gedanken, ob ich mich nicht hätte mehr in sein Leben einmischen sollen.« [32]

Es ist mehr als fraglich, ob man Frank Giering zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch hätte helfen können, ob er im Gegenzug diese Hilfe überhaupt noch hätte annehmen können. Das weiß auch Aelrun Goette. Doch ist es gerade auch dieses Gefühl der Machtlosigkeit, diese Hilflosigkeit im Kampf um einen geschätzten Menschen, der Frank Gierings viel zu frühen Tod umso bitterer macht, fast einer persönlichen Niederlage gleichkommt und in ihr eine ohnmächtige Wut auf Gott und die Welt schürt. »Weil wir es nicht geschafft haben, ihn am Leben zu halten. Weil er es selber nicht geschafft hat. (...) Und das macht mich fertig. Ich habe ihn geliebt.« [33]

Erst mit seinem Tod wird Frank Giering in zahlreichen Nachrufen endlich die Anerkennung und Hochachtung erhalten, die er sich ein Leben lang gewünscht und zu seinen Lebzeiten so bitter nötig gehabt hätte. Für Frank Giering wird dieses Lob zu spät kommen, er wird den Beifall, den letzten Applaus nicht mehr hören. Auch wenn es ihn sehr gefreut hätte, wie Thomas Jahn etwas bitter betont. »Frank brauchte viel Bestätigung und Liebe. Und das in diesem Beruf, in dem es fast immer nur um Zeit, um Pünktlichkeit geht. Diese kontinuierliche, knüppelharte Fernseharbeit über Monate hinweg, von Januar bis August. Du hast zwar Geld und Sicherheiten, aber dein Leben ist verplant, und zwar mit Forderungen. Wer mal versucht hat, vor ’ne Kamera zu treten und vor 35 Leuten, die um einen rumstehen, zu spielen, der weiß, wie schwer das ist. Das kostet einen normalen Menschen schon viel Überwindung. Für jemanden wie Frank, der voller Neurosen war, ganz wenig Selbst­bewusstsein hatte, für den ist das fünfmal so schwer. (...) Frank hatte Angst vor dem Leben da draußen. Angst vor dem Ganzen. Er hatte nie ein Selbstverständnis als Schauspieler. Wir leben ja in einer Welt, in der überhaupt nicht mehr gelobt wird. Alles hat so einen zynischen Unterton. Das war für jemanden wie Frank schwer zu ertragen. Die Presse, die er bekommen hat an dem Tag nach seinem Tod, dieses Lob, mit dem er überschüttet wurde, das hat ihm gefehlt.« [34]

Die Melancholie, die ihn auch in seinen Rollen stets umgab, bekommt nach seinem Tod eine ganz neue Bedeutung. So schrieb beispielsweise der Spiegel: »Sein trauriger, jungenhafter Blick, der voller Sehnsucht nach anderen, weit entfernten Orten Ausschau zu halten schien, war womöglich nicht gespielt. Giering bekannte sich in Interviews immer wieder zu seinen Schwierigkeiten, eine Heimat zu finden, einen festen Ort im Leben. Dass dieser zweifelnde Wanderer so früh gegangen ist, bedeutet einen bitteren Verlust für das deutsche Kino und Fernsehen.« [35]

Immer wieder wird die Tiefe und Intensität seines Spiels betont, die Traurigkeit und Verlorenheit seines Blickes. Dass er Gefühle nie nur gespielt, sondern wirklich gelebt und zugelassen habe, dass er den Zuschauer unerbittlich nah an sich herangelassen und dabei so viel von sich preisgegeben habe. Dass er wie kaum ein anderer so unglaublich tief berühren konnte. [36]

Doch auch von der Rastlosigkeit, die Frank Giering zeit seines Lebens getrieben hatte und die sich allein in der schieren Anzahl seiner Filme manifestierte, wird in vielen Nachrufen die Rede sein. Ebenso von der zum Teil fehlenden Sorgfalt bei der Auswahl seiner Rollen. Viele Zeitungen bemängeln, dass sich Frank Giering in unwichtigen Nebenrollen verbrannt und unter Wert verkauft habe. [37] Tatsächlich war es ihm nicht wichtig, was er spielte. Wichtig war allein, dass er spielte. Und er so wenigstens für einen kurzen Moment seine Ängste und seine Einsamkeit vergessen konnte. [38]

Der Versuch, diesem Schwermut zu entkommen, ist laut einem Nachruf in der Zeitschrift tip Berlin schon in seiner Begründung für den Wunsch, Schauspieler zu werden, zu erahnen: »(...) denn damals sprach er davon, dass er sich ein Leben ausmalte, in dem er abends auf der Bühne stehen würde und den Tag verschlafen könnte. Der Tag gehört den Lebenstüchtigen, die Nacht gehört denen, die sich vom Leben davonstehlen in die imaginären Universen der Kunst und der Phantasie.« [39]

Sehr oft wird in diesem Zusammenhang auch ein Satz aus seinem wohl schönsten Film Absolute Giganten zitiert: »Weißt Du, was ich manchmal denke? Es müsste immer Musik da sein, bei allem, was Du machst. Und wenn es richtig Scheiße ist, dann ist wenigstens noch die Musik da. Und an der Stelle, wo es am allerschönsten ist, da müsste die Platte springen und Du hörst immer nur diesen einen Moment«. [40]

Verbunden mit der Hoffnung, dass die ganz persönliche Platte von Frank Giering nicht an einer besonders traurigen Stelle in seinem Leben gesprungen ist. »Seine Platte ist gesprungen. Noch weiß man nicht, warum – und ob es gerade an der schönsten Stelle war oder doch vielleicht eher an einer sehr traurigen. Aber die Hoffnung in seiner Stimme, in dem Moment, wenn er von seinem großen Aufbruch erzählt oder eben diese Sätze über die Musik sagt – sie wird noch lange in uns nachklingen.« [41]

Doch auch eine andere großartige und sehr wehmütige Szene aus Absolute Giganten löst im Nachhinein Assoziationen zu dem Leben von Frank Giering aus: »Wahrscheinlich komme ich nicht wieder. Ich muss woanders hin, ich muss irgendwohin, wo ich wirklich hingehöre. Ich weiß noch nicht, wo das ist, aber ich werd‘s finden. Und da bleib ich dann.« Man möchte sich wünschen, dass Frank Giering diesen Ort nun doch noch gefunden hat. [42]

Frank Giering in »Absolute Giganten« / ©Alamy
Frank Giering in »Absolute Giganten« / ©Alamy

Die Anfangsszene aus Absolute Giganten erscheint im Nachblick wie eine Parabel zu seinem Leben. Als er sich als Floyd im Rausch der Geschwindigkeit auf die Fensterkante der Beifahrertür setzt, seinen Oberkörper hinaus ins Freie hält, um mit ausgebreiteten Armen die Freiheit zu erspüren. »Der Wind fährt ihm über das Gesicht, er spürt die gefährliche Freiheit. Und dann explodiert der Motor.« [43]

Sebastian Schipper, von dem das Drehbuch zu Absolute Giganten stammt, drückte sich etwas weniger prosaischer aus: »Es gibt einen Punkt in mir, der auch denkt, dass er jetzt Ruhe hat vor all der Scham und dem Versagen. Und der sich vielleicht freut, dass wir an ihn denken, den tollen Blödmann.« [44]

Frank Giering wurde am 9. Juli 2010 auf dem Neustädter Friedhof in Magdeburg beigesetzt. [45]

Er wird fehlen.


[1]     Hübner, Katja: Der Sentimentale, in: Der Tagesspiegel vom 24.02.2010.

[2]     Interview Frank Giering, in: Thadeusz, Erstausstrahlung 09.03.2010, RBB.

[3]     Interview Frank Giering, in: Thadeusz, Erstausstrahlung 09.03.2010, RBB.

[4]     Hübner, Katja et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010 und Hunfeld, Frauke: Zu ängstlich fürs Leben, in: Der Stern, Heft 29/2010, S. 64.

[5]     Hübner, Katja et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010 und Hunfeld, Frauke: Zu ängstlich fürs Leben, in: Der Stern, Heft 29/2010, S. 64.

[6]     Hübner, Katja et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010

[7]     Jahn, Thomas et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010 und Wahl, Thorsten: Die Traurigkeit bleibt, in: Berliner Zeitung vom 25.02.2011.

[8]     Hunfeld, Frauke: Zu ängstlich fürs Leben, in: Der Stern, Heft 29/2010, S. 64 und Santen, Michael: Christian Berkel über seine Rolle als Der Kriminalist, in: Südwest Presse vom 24.10.2014.

[9]     Jahn, Thomas et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010.

[10]    Hunfeld, Frauke: Zu ängstlich fürs Leben, in: Der Stern, Heft 29/2010, S. 64.

[11]    Interview Christian Berkel, in: Volle Kanne, Erstausstrahlung 06.06.2011, ZDF.

[12]    Schacht, Michael: Der Kriminalist-Kollege im Bild-Interview: Christian Berkel spricht über seinen toten Freund Frank Giering, in: Bild vom 14.10.2010.

[13]    Decker, Gunnar: Der Lebensängstliche, in: Neues Deutschland vom 26.06.2010.

[14]    Goette, Aelrun et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010.

[15]    Goette, Aelrun et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010.

[16]    Interview Christian Berkel, in: Volle Kanne, Erstausstrahlung 06.06.2011, ZDF.

[17]    Öffentliches Filmgespräch mit Sebastian Schipper im Rahmen des Hamburger Festivals Eine Stadt sieht einen Film im Metropolis Kino am 24. April 2016.

[18]    Rating, Britta: Wir vermissen Dich, Frank!, in: Grazia, Heft 28/2010, S. 122.

[19]    Hunfeld, Frauke: Zu ängstlich fürs Leben, in: Der Stern, Heft 29/2010, S. 64 und Bogdon, Norbert: Mein Sohn war zu verletzlich für diese Welt, in: Bild am Sonntag vom 04.07.2010.

[20]    Hunfeld, Frauke: Zu ängstlich fürs Leben, in: Der Stern, Heft 29/2010, S. 64.

[21]    Schauspieler Frank Giering starb an Gallenkolik, in: http://www.stern.de/kultur/film/todesursache-geklaert-schauspieler-frank-giering-starb-an-gallenkolik-1578239.html, abgerufen am 28.08.2012 und Hunfeld, Frauke: Zu ängstlich fürs Leben, in: Der Stern, Heft 29/2010, S. 64.

[22]    Santen, Michael: Christian Berkel über seine Rolle als Der Kriminalist, in: Südwest Presse vom 24.10.2014.

[23]    Santen, Michael: Christian Berkel über seine Rolle als Der Kriminalist, in: Südwest Presse vom 24.10.2014.

[24]    Wahl, Thorsten: Die Traurigkeit bleibt, in: Berliner Zeitung vom 25.02.2011

[25]    Wahl, Thorsten: Die Traurigkeit bleibt, in: Berliner Zeitung vom 25.02.2011

[26]    Vogt, Rainer: Jeder Mensch hat eine Farbe, die nicht wiederholbar ist – Christian Berkel über die Reihe Der Kriminalist und Frank Giering, in: Berliner Morgenpost vom 14.10.2010.

[27]    Wahl, Thorsten: Die Traurigkeit bleibt, in: Berliner Zeitung vom 25.02.2011.

[28]    Zitat aus der Folge Tod eines Begleiters aus der Reihe Der Kriminalist.

[29]    Interview Christian Berkel, in: ZDF Mittagsmagazin, Erstausstrahlung Februar 2011, ZDF.

[30]    Jahn, Thomas et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010.

[31]    Jahn, Thomas et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010 und Wahl, Thorsten: Die Traurigkeit bleibt, in: Berliner Zeitung vom 25.02.2011.

[32]    Jahn, Thomas et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010.

[33]    Goette, Aelrun et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010.

[34]    Jahn, Thomas et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010.

[35]    Kurznotiz im Register »Gestorben«, in:  Der Spiegel, Heft 26/2010, S. 146.

[36]    Bangel, Christian: Nachrufe 2010: Für immer gegangen – Frank Giering, in: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-12/nachrufe-2010/seite-18, abgerufen am 28.08.2012 und Zwirner, Heiko: Intro, in: tip Berlin, Heft 16/2010, S. 3 und Sterneborg, Anke: Wahrscheinlich komm ich nicht wieder, in: EDP Film, Heft 8/2010, S. 14 und Kniebe, Tobias: Du hörst immer nur diesen einen Moment, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.06.2010 und Monath, Natascha: Frank Giering ist tot – Trauer um einen großen Schauspieler, in: http://www.suite101.de/content/frank-giering-ist-tot-trauer-um-einen-grossen-schauspieler-a79327, abgerufen am 28.08.2012 und Rodek, Hanns-Georg; Sudholt, Eva: Der sehnsüchtige Gigant, in: Welt am Sonntag vom 27.06.2010.

[37]    Kniebe, Tobias: Du hörst immer nur diesen einen Moment, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.06.2010 und Spaich, Herbert: Zum Tod von Frank Giering, in: http://www.swr.de/blog/filmspaicher/2010/06/27/zum-tod-von-frank-giering/, abgerufen am 28.08.2012 und Hunfeld, Frauke: Zu ängstlich fürs Leben, in: Der Stern, Heft 29/2010, S. 63.

[38]    Rebhandl, Bert: Die guten und die bösen Geister, in: tip Berlin, Heft 16/2010, S. 30, Hunfeld, Frauke: Zu ängstlich fürs Leben, in: Der Stern, Heft 29/2010, S. 64.

[39]    Rebhandl, Bert: Die guten und die bösen Geister, in: tip Berlin, Heft 16/2010, S. 30.

[40]    Kniebe, Tobias: Du hörst immer nur diesen einen Moment, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.06.2010.

[41]    Kniebe, Tobias: Du hörst immer nur diesen einen Moment, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.06.2010.

[42]    Serrao, Marc Felix: Frank Giering – Der Schauspieler wird einer ganzen Generation junger Männer als absoluter Gigant in Erinnerung bleiben, in: SZ Magazin, Heft 50/2010, S. 13 und Sterneborg, Anke: Wahrscheinlich komm ich nicht wieder, in: EDP Film, Heft 8/2010, S. 14.

[43]    Rebhandl, Bert: Die guten und die bösen Geister, in: tip Berlin, Heft 16/2010, S. 30.

[44]    Rebhandl, Bert: Ein Interview mit Sebastian Schipper zum Tod von Frank Giering, in: tip Berlin, Heft 16/2010, S. 31.

[45]    Frank Giering in Magdeburg beerdigt, in: http://www.focus.de/kultur/kino_tv/medien-frank-giering-in-magdeburg-beerdigt_aid_528712.html, abgerufen am 28.08.2012.