Ein Traum wird geboren

In seiner Kindheit und frühen Jugend hat Frank Giering zunächst nur wenige Berührungs­punkte mit dem Theater. Als Arbeiterkind fehlt ihm über sein Elternhaus jeder Bezug zu dieser ihm fremden Welt der Künste und des Schauspiels. Lediglich über die Schule und gelegentliche Ausflüge ins Kindertheater gewinnt er einen ersten Eindruck. Doch obwohl er diese Besuche sehr genossen hat, ist ihm nie in den Sinn gekommen, den Kontakt von sich aus zu vertiefen. »Ich hatte damit eigentlich überhaupt nichts zu tun. Theatererfahrung hatte ich eigentlich nur vom Kindertheater. Wir waren mit der Schule manchmal im Kindertheater und das fand ich schon immer ganz toll. Und wenn man als Kind so Märchen sieht, dann ist das ja irgendwie alles noch viel mehr Realität als Phantasie – weil man als Kind auch noch genug Phantasie hat. Für mich war das einfach immer etwas ganz Besonderes. Aber ich habe mich jetzt nie so mit der ernsthaften Literatur beschäftigt. Und habe auch nie gewusst, wie hochdramatisch das alles so ist.« [1] Auch seine erste Bühnenerfahrung im Rahmen einer Schulaufführung bleibt ihm nicht unbedingt positiv in Erinnerung. Weder seine Mitschüler noch seine Lehrer bemerken das Herzblut, dass er in seine Rolle steckt. Stattdessen prasselt es hämische Kommentare aufgrund eines anatomischen Fehlgriffs. »Ich musste in der Schule einmal eine Szene spielen, wo ich sterben musste. Und ich bin wirklich gestorben, hatte aber meine Hände nicht am Herz, sondern auf der anderen Seite. Und dann haben alle nur gelacht und gesagt: ›Hähä, das Herz ist aber links, nicht rechts!‹ Die hatten gar nicht gesehen, wie ich da gespielt habe!« [2]

Trotzdem lässt er sich im Alter von sechzehn Jahren [3] von seiner Tante Gabriele Blumenfeld, die im künstlerischen Betriebsbüro des Magdeburger Maxim-Gorki Theaters arbeitet und auf der Suche nach Komparsen ist, dazu überreden, eine Statistenrolle in dem Stück Der Park von Seán O’Casey zu übernehmen. Obwohl er nach eigenen Worten mit seiner Zusage nur ein Mädchen beeindrucken wollte, in das er sich verliebt hatte, [4] wird die Bitte seiner Tante sein gesamtes weiteres Leben prägen. Die Rolle ist nicht wirklich groß – er soll als Butler einen Brief auf die Bühne bringen und anschließend abgehen – aber alleine die Vorstellung, dass ihn alle Zuschauer dabei sehen werden, verleiht seiner Phantasie Flügel. [5]

ehemaliges Maxim-Gorki Theater (heutiges Opernhaus)
ehemaliges Maxim-Gorki Theater (heutiges Opernhaus)

»Für mich war das so, als würde man die komplette Welt (…) so ganz klein in eine ganz kleine Kugel packen – und das ist dann in diesem Fall die Bühne. Und auf dieser Bühne in dieser kleinen Kugel sind dann nur drei Leute zu sehen, unter anderem eben ich. Ich habe mir das ganz toll vorgestellt.« [6]

Die nächste Rolle ist ähnlich klein und unbedeutend: In der Dreigroschenoper von Bertold Brecht darf er das Volk spielen – oder zumindest einen kleinen Teil davon. Selbst der Umstand von Anfang bis Ende seines Auftritts in einer Nebelwolke verhüllt zu bleiben, kann seine Begeisterung nicht schmälern. [7] Diese neue, fremde Welt zieht ihn sofort in ihren Bann. [8] Später gibt er allerdings zu, dass seine ersten Bühnenerfahrungen nur am Rande etwas mit echter Schauspielerei gemein gehabt hätten. »Aber das war jetzt kein wirkliches Schauspielern. Man hat ein Kostüm anbekommen und wurde geschminkt. Das war alles ganz faszinierend – ich habe diesen Geruch geliebt! Und dann bekam man noch 20 Mark. Wir haben uns immer eine rote Brause – Lenin-Schweiß hieß das damals – gekauft, eine Bockwurst gegessen und Skat gespielt. Und das war für mich sozusagen der Inbegriff der Schauspielerei. Das habe ich zumindest gedacht. Ich ging dann durch so eine Nebelwolke und dachte, bestimmt haben mich jetzt alle in Magdeburg erkannt und werden mich ansprechen.« [9]

Um dieses Gefühl auszukosten, bemüht er sich, nach der Vorstellung die gleiche Straßenbahn zu erreichen, mit der auch die Zuschauer nach Hause fahren würden, immer in der Hoffnung verfangen, erkannt und angesprochen zu werden. »Damals dachte ich, dass ich was ganz Besonderes sei, weil ich über die Bühne renne. Ich habe mich nach der Vorstellung auch immer ganz schnell abgeschminkt und umgezogen, damit ich noch die Straßenbahn schaffe, mit der auch die Zuschauer fahren, weil ich gehofft habe, dass die mich erkennen.« [10]

»Ich hatte so eine Sucht wahrgenommen zu werden«, gesteht er, »die habe ich auch immer noch. Vermutlich ist die auch noch da, wenn ich zu Grabe getragen werde.« [11]

Im Theater fühlt er sich wohl. Es ist für ihn wie eine Spielwiese. Zum ersten Mal fühlt er sich wirklich zu etwas zugehörig. Er beginnt leise zu ahnen, dass hier ein Weg beginnen könnte, der ihn herausführt aus der Einsamkeit, heraus aus seinen Komplexen, aus seinen Traumwelten. [12]

So verwundert es nicht, dass er den Kontakt auch in späteren Jahren nicht abbrechen ließ und auch den neu gegründeten Theaterjugendclub mit vielen Besuchen beehren wird, wie sich der Magdeburger Schauspieler Christian Friedel, der Frank Giering aus den gemeinsamen Statistenjahren kennt, später erinnern wird. [13]

In Frank Giering regt sich ganz sacht und behutsam der Wunsch, Schauspieler zu werden. Ohne genau zu wissen was das bedeutet. »Für mich waren Schauspieler immer die, die da abends einfach spielen, tagsüber schlafen oder einkaufen, und abends wieder spielen, um dann in die Kantine zu gehen.« [14]

Eine weitere Motivation ist die Vorstellung, berühmt, von Frauen begehrt zu sein, die in ihm einen bislang unbekannten Ehrgeiz und eine neue Beharrlichkeit wecken. [15] »Ich wollte reich und berühmt sein – um geliebt zu werden. So berühmt, dass ich nirgends mehr unerkannt hingehen könnte.« [16]

Nach Aussage seiner Eltern lässt er sich zum ersten Mal in seinem Leben auch von Rückschlägen nicht von seinem Ziel abbringen. [17] Was der Beruf Schauspieler aber tatsächlich bedeutet, soll ihm erst sehr viel später bewusstwerden. »Als ich dann den Beruf ausgeübt habe und Gott sei Dank auch schöne Rollen bekommen habe, da habe ich gemerkt, dass es eigentlich um etwas ganz anderes geht. Und als ich das dann spielen und leben durfte, da bin ich einfach mit Höchsttempo in eine Richtung losgelaufen, ohne zu wissen, wo ich eigentlich hinwollte. Irgendwann ist mir das dann bewusstgeworden. Das war vergleichbar mit dem Gefühl, in einem Zug einzuschlafen, plötzlich wach zu werden und aussteigen zu müssen. An einem Ort, den man nicht kennt. Und da musste ich mich neu zurechtfinden. Das war halt ein bisschen schwierig.« [18]

Seine Eltern, die beide in einem Betonwerk in Magdeburg arbeiten [19], hatten für ihren Sohn mit Sicherheit völlig andere Zukunftspläne. Doch obwohl der Stiefvater im Betrieb bereits längst nach einer Lehrstelle für seinen Stiefsohn vorgefühlt hatte, als dieser mit dem Wunsch überraschte, Schauspieler werden zu wollen, [20] konnte sich Frank Giering auf seinem weiteren Weg immer der vollen Unterstützung seiner Eltern sicher sein. »Meine Eltern waren immer offen und tolerant und haben gesagt: ›Wenn du das wirklich willst, dann mach es.‹« [21]

Auch wenn er zunächst gar nicht weiß, wie das geht: Schauspieler zu werden. »Und ich weiß: Das ist es, das ist mein Beruf. Ich werde Schauspieler. Aber wie geht das genau? Ich frage einen, der schon Schauspieler ist, einen echten, und er sagt: ›Lern zwei Rollentexte, ein Lied und ein Gedicht und bewirb Dich.‹ Gut, aber wo? Natürlich denke ich zuerst an Babelsberg. Ja, berühmt werden!« [22]

Der Schauspieler Erik Roßbander, den er noch Jahre später sein großes Vorbild nennen wird, [23] nimmt sich seiner an und lehrt ihn das kleine Einmaleins der Schauspielerei. In ihm findet er einen geduldigen Mentor. Dreimal die Woche bereitet Roßbander ihn nach Probenschluss auf die Eignungsprüfung an der Filmhochschule Babelsberg und damit auf die Erfüllung seines Berufswunsches vor. [24] Im April 1989 macht sich Frank Giering »mit viel Hoffnung und einem Passagierschein« [25] auf den Weg nach Babelsberg, um berühmt zu werden. Vorbereitet hat er einen Text aus Woyzeck, der für ihn auch später noch Bedeutung haben soll.

Aus einer Reihe von 30 Bewerbern bestehen lediglich zwei Kandidaten das Vorsprechen, ein Mädchen und Frank Giering selbst. Er hat es geschafft. Er darf Schauspiel studieren. [26]


[1]     Interview Frank Giering, in: Thadeusz, Erstausstrahlung 09.03.2010, RBB.

[2]     Interview Frank Giering, in: ZIBB, Erstausstrahlung 05.11.2004, RBB.

[3]     Giering, Frank: Traumerfüllung in der Traumfabrik, in: EPD Film, Heft 1/2007, S. 5 und Hübner, Katja: Der Sentimentale, in: Der Tagesspiegel vom 24.02.2010. In anderen Quellen wird sein Alter bei seinem ersten Auftritt als Komparse abweichend mit 14 oder 15 Jahren angegeben.

[4]     Wehrstedt, Norbert: Wenn ich Leid spiele, leide ich mit, in: Leipziger Volkszeitung vom 12.10.2007.

[5]     Interview Frank Giering, in: Thadeusz, Erstausstrahlung 09.03.2010, RBB und Hildebrandt, Antje: Ich bewundere Homer Simpson, in: Frankfurter Rundschau vom 07.12.2006.

[6]     Interview Frank Giering, in: Thadeusz, Erstausstrahlung 09.03.2010, RBB.

[7]     Kohls, Mareile: Der Mork von Magdeburg, in: Allegra, Heft 1/2000, S. 151.

[8]     Interview Frank Giering, in: Thadeusz, Erstausstrahlung 09.03.2010, RBB.

[9]     Interview Frank Giering, in: Hier ab vier, Erstausstrahlung 16.12.2004, MDR.

[10]    Jung, Artur: Wege zum Ruhm, in: Cinema, Heft 2/2001, S. 85.

[11]    Hübner, Katja: Der Sentimentale, in: Der Tagesspiegel vom 24.02.2010.

[12]    Nensel, Kuno: Gierig nach Liebe, in: TV Spielfilm, Heft 3/2001, S. 27.

[13]    Krämer, Ralf: Künstler müssen auch scheitern dürfen – Interview mit Christian Friedel, in: http://www.planet-interview.de/interviews/ christian-friedel/47542/, abgerufen am 10.06.2016.

[14]    Hübner, Katja: Der Sentimentale, in: Der Tagesspiegel vom 24.02.2010.

[15]    Hellmers, Sara: Hausbesuch Frank Giering, in: Blond, Heft 2/2004, S. 53 und Bartels, Christian: Hey, das ist doch…, in: Stern TV Magazin, Heft 21/2001, S. 2 und Jung, Artur: Wege zum Ruhm, in: Cinema, Heft 2/2001, S. 85 und Porträt Frank Giering, in: Sachsen-Anhalt heute, Erstausstrahlung 21.06.2001, MDR und Interview Frank Giering, in: Nachtcafé, Thema: Schatten der Vergangenheit, Erstausstrahlung 11.03.2005, SWR.

[16]    Krämer, Ralf: Künstler müssen auch scheitern dürfen – Interview mit Christian Friedel, in: http://www.planet-interview.de/interviews/ christian-friedel/47542/, abgerufen am 10.06.2016.

[17]    Hunfeld, Frauke: Zu ängstlich fürs Leben, in: Der Stern, Heft 29/2010, S. 62.

[18]    Interview Frank Giering, in: Hier ab vier, Erstausstrahlung 16.12.2004, MDR.

[19]    Interview Frank Giering, in: Thadeusz, Erstausstrahlung 09.03.2010, RBB.

[20]    Hunfeld, Frauke: Zu ängstlich fürs Leben, in: Der Stern, Heft 29/2010, S. 62.

[21]    Engelhardt, Conrad: Absoluter Gigant, in: Dates Stadtmagazin Magdeburg, Heft 12/1999, S. 29.

[22]    Giering, Frank: Traumerfüllung in der Traumfabrik, in: EDP Film, Heft 1/2007, S. 5.

[23]    Interview Frank Giering, in: MDR um zwölf, Erstausstrahlung 27.06.2000, MDR.

[24]    Kohls, Mareile: Der Mork von Magdeburg, in: Allegra, Heft 1/2000, S. 151.

[25]    Giering, Frank: Traumerfüllung in der Traumfabrik, in: EPD Film, Heft 1/2007, S. 5.

[26]    Hildebrandt, Antje: Ich bewundere Homer Simpson, in: Frankfurter Rundschau vom 07.12.2006.